Wie der geneigte Leser dieser Postille weiß, liegt jener von uns besuchte Inselstaat bekanntlich ziemlich mittig zwischen der Alten Welt (vulgo Europa) und der Neuen Welt (Kanada und der Rest darunter, bis Mexiko beginnt), und irgendwo unterhalb Grönlands. Das hat böse Implikationen.
Nämlich auf die Menschen, die man hier, auf Island, in der dyseinödischen Einöde, antrifft. Das sind namentlich vorwiegend US-Amerikaner, aber auch Kanadier. Schon die Gründe Letzterer erscheinen zweifelhaft, haben sie vergleichbare Vegetation und analoges Klima doch vor der Haustüre. Geschenkt. Vermutlich ist es schlicht der Reiz des abgeschlossenen (Öko-)Systems, der sie hierher zieht. So geht es im Übrigen auch uns.
Bei den südlichen, „sprachbegabten“ Nachbarn der Kanadier sind jedoch weitergehende Zweifel angebracht. Jedenfalls ist der (sic!) US-Amerikaner – so es diesen einen bei knapp 330 Millionen ebensolchen überhaupt geben kann – in erster Linie weniger bekannt als Kosmopolit denn als kulturanthropologischer Geisterfahrer. Solche Exemplare konnten wir unlängst im Café in Akureyri besichtigen. Das aber nur nebenbei.
Ein Blick auf die Daten: Island erlebt seit dem Jahrtausendwechsel einen regelrechten Tourismusboom. Zählte das Land zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts nur wenige Tausend Touristen pro Jahr, besuchen mittlerweile jährlich weit über zwei Millionen Menschen die Insel, deren Einwohnerzahl die 350.000er-Grenze noch immer nicht überschritten hat.
Seit 2007 hat sich die Zahl der Übernachtungen ausländischer Besucher auf gut 4,4 Millionen pro Jahr mehr als vervierfacht (siehe Grafik). Unser ungarischer Gastgeber in der Vogur Country Lodge in der westlichen Gemeinde Dalabyggð meinte, die sei wohl auch auf den Eyjafjallajökull zurückzuführen. Der Vulkan im Süden Islands hatte mit einer Eruption im Frühjahr 2010 den europäischen und nordamerikanischen Flugverkehr zeitweise völlig zum Erliegen gebracht. Island war damals in allen Nachrichten Aufmacher. Und spätestens mit der spektakulären Teilnahme an der Fußball-EM 2016 in Frankreich dürften die Isländer zahlreiche (europäische) Herzen mehr erobert haben.
Ob beides nun maßgeblichen Einfluss auf die Tourismuszahlen gehabt hat? Quod esset demonstrandum. Der Verdacht jedenfalls liegt nahe.
Ein Faktum ist allerdings der wachsende Anteil des Tourismus an der isländischen Wirtschaftsleistung. Das zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die offizielle Exportstatistik. Aluminium (wegen der geringen Energiekosten) und Fisch (wegen des vielen Wassers drumherum) sind seither die Exportschlager. Doch der Tourismus übermannt sie mittlerweile beide. Dessen Leistung hat sich seit 2013 beinahe verdoppelt – auf 500 Milliarden ISK pro Jahr (rund vier Milliarden Euro).
Eine Ursache für den enormen Zuwachs beim Gewerbe mit Gästen und Reisenden in den letzten Jahren dürfte man wohl auch im Jahr 2008 finden. Damals hat die globale Finanzkrise, ausgelöst durch die Insolvenz von Lehman Brothers, auch Island böse erwischt. Der völlig überblähte hiesige Finanzsektor war quasi über Nacht zusammengebrochen, die drei größten Geschäftsbanken mussten faktisch unter staatliches Kuratel gestellt werden. Das Land stand wegen der abnormen Schuldenlast der drei Banken kurz vor dem Bankrott. Nur eine originelle Bad-Bank-Konstruktion bewahrte die Isländer davor, was jedoch die ausländischen Gläubiger erzürnte, allen voran aus Großbritannien und den Niederlanden. Eine massive Abwertung der Krone, steigende Inflation und drastische Anhebung des Zinsniveaus waren die Folge.
Der Einbruch der Binnenwirtschaft hatte direkte Folgen auch für die Fluggesellschaft Icelandair. Schon kurz nach dem Ausbruch der Finanzkrise seien die Inlandsflüge „drastisch eingebrochen“, hieß es bereits im Oktober 2008 seitens des Unternehmens. Deren Hoffnung: „Ordentlicher Verkehr aus anderen Märkten.“ Helfen werde außerdem die schwache Krone.
So kam es denn auch und Icelandair wurde zum touristischen „Heilsbringer“ Islands. Seit 2011 kommen immer mehr ausländische Passagiere am internationalen Flughafen Keflavík an. Ihre Zahl hat sich seit 2007 bis zum vergangenen Jahr auf 1,7 Millionen pro Jahr mehr als vervierfacht.
Auffallend daran ist der Anteil der US-Bürger. Der ist seit 2007 von damals zwölf auf jetzt 34 Prozent gestiegen. Rund jeder dritte Besucher kommt also aus den USA.
Dabei dürfte es sich nicht um ein Artefakt handeln. Denn der Effekt wird maßgeblich angetrieben von Icelandair. Schon seit Jahren wirbt die Fluggesellschaft mit sogenannten Stopover Adventures. Sie versteht sich als Anbieter von „Direktverbindungen“ zwischen Nordamerika und Europa, mit kleinem Zwischenstopp in Keflavík. Und wenn man schon mal hier ist, so die Werbung, kann man doch auch zwei, drei Tage am Golden Circle pausieren.
In der Tat sind die Zwischenstopps nicht teurer als Direktflüge. Ein schneller Versuch: Flug am 10. Juni, um 20:30 Uhr von Washington Dulles Airport via Keflavík nach Frankfurt und am 21. Juni, um 14 Uhr retour. Ohne Stopover schlagen beide Flüge mit 1.011 US-Dollar zu Buche, mit zweitägigem Stopp sind es 981 USD. Zum Vergleich: Derselbe Roundtrip kostet an diesen Tagen bei United und bei Lufthansa jeweils 1.962 USD und bei Delta 2.011 USD.
Diese Preisunterschiede und das offensive Icelandair-Marketing taugen bereits für eine Erklärung, warum US-Amerikaner in Island gefühlt ubiquitär anzutreffen sind.
Hinzukommt das staatliche Tourismusmarketing, das spätestens seit der Krise noch ausgeprägtere Züge angenommen hat. Das Land mit wohlgemerkt rund dreihundervierzigtausend Einwohnern – also knapp dreimal Offenbach, bzw. ein Fünftel Wien – leistet sich neben der staatlichen Promotionbehörde Íslandsstofa die Vermarktungskampagne Inspired by Island, die 2010 vom Ministerium für Industrie, Energie und Tourismus (Iðnaðarráðuneyti Íslands) ins Leben gerufen wurde. Beide Agenturen wurden als Reaktion auf den Eyjafjallajökull-Ausbruch gegründet, um das Image Islands im Ausland aufzupolieren. Im Privatsektor kümmert sich außerdem noch der große Reiseanbieter Iceland Travel um Tourismusförderung.
Und nun der Fußball. Mit dem „Huh!“ ihrer Fans ist die isländische National-Elf binnen weniger Wochen nicht nur bekannt, sondern gleich noch berühmt geworden. 2018 treten sie in Russland erstmals bei einer Fußball-Weltmeisterschaft auf. In Gruppe D müssen sie sich gegen Argentinien, Kroatien und Nigeria behaupten.
Grund genug für eine neuerliche Kampagne zugunsten des Landes, ins Leben gerufen freilich von „Inspired by Iceland“. Selbst der Präsident des Landes, Guðni Th. Jóhannesson, und seine Gattin sind für ein PR-Video in Trikots geschlüpft.