Angeschmiert: Was in Egilsstaðir kurz vor der Abfahrt noch wie ein bombiger Herbstausflug aussah, entpuppt sich bereits kurze Zeit später als wahre Odyssee. Der Winter ist in voller Blüte angekommen, wir stecken mittendrin, im Eis und im Schneesturm. Und dann sind da noch diese Franzosen.
Bereits vorab die traurige Nachricht: Ich werde von der folgenden Fahrt kaum Fotos machen können, beide Hände umklammern wahlweise fest das Lenkrad, oder zumindest die rechte Hand wird für das Herunterschalten zum Bremsen benötigt. Der Kopf ist dicht hinter die Scheibe gepresst, dann erhöht sich die Sichtweite etwas – von einem Meter auf einen Meter und zwanzig.
Los geht es schon im Jökuldalur, dem Tal, durch das die 1 von Egilsstaðir nach Südwesten ins Hochland Richtung Jökuldalsheiði führt. In dem Tal weht der Wind so heftig, dass das Gefährt kaum zu bändigen ist. Egal will es entweder den Abhang erkunden oder querfeldein den Felsen erklimmen. Die Straße ist erst nass, dann verschneit, dann vereist.
Die Sichtweite sinkt mit jedem Höhenmeter. Die Schneefallgrenze liegt bei 200 Metern. Darüber ist Winter. Wir müssen auf 600 Meter. Das isländische Wetteramt warnt uns online und per digitalem Straßenschild vor Eis und Wind mit 20 m/s aus Norden oder Nordwesten. Von dort kommt noch mehr Kälte.
Unser Gastwirt im Vinland hatte uns vorhin noch zahlreiche Tipps mit auf den Weg gegeben. Allein deswegen ist er für andere Reisende eine große Empfehlung wert (und bitte nicht über booking.com buchen, wünscht er sich, damit er die 15 Prozent Kommission sparen kann).
Sein Tipp war die Website von Vegagerðin, der isländische Straßenverkehrbehörde. Wohl kaum ein Land hat so eine lobenswerte Surveillance der aktuellen und absehbaren Straßenverhältnisse. Auf der Karte haben wir nicht nur gesehen, welche Straßen unpassierbar sind, sondern auch, an welcher Stelle wir uns worauf einstellen müssen.
Mitten in der Pampa stehen hunderte Webcams, die Live-Bilder von den Straßen liefern. Man sieht online sogar auf die Minute, wieviele Autos derzeit auf der Straße unterwegs sind – und wo im Moment der Winterdienst am Räumen ist. Hut ab.
Wir wissen also, in welches Abenteuer wir uns stürzen und sind dennoch erstaunt. Der Wind ist heftig. Im Schneesturm ist die Sicht gleich null. Die Straßen sind Eisbahnen und ohnehin eng. Gegenverkehr ist scheiße. Rechts ist die Schlucht, links auch. Unsere Kiste fährt sich wie auf Eierschalen. Und dann geht es auch noch bergab, und dann wieder bergauf, samt Kurven, ohne Leitblanken. Entsetzen, Grauen, Tod, Vergammelung, Auffahrt in den Himmel, beziehungsweise Abfahrt in die Hölle sind drohende Wegbegleiter.
Wer bei diesem Wetter das Bremspedal benutzt, ist selbst Schuld. Da hilft auch kein ESP, ob an- oder ausgeschaltet, oder gar nicht erst eingebaut. Unsere Reifen sind für das Wetter sowieso ein schlechter Witz. Zu unserem Autovermieter drängt sich mir unweigerlich die Assoziation „Arschloch“ auf. Für heute jedenfalls ist das Bremspedal tabu. Wir lassen das Getriebe arbeiten. Und immer wieder zitiert mein angestrengt glotzender Kopf den alten Gastwirt: „Drive careful and slow.“
Langsam gewöhnen wir uns an die Schlitterpartie mit maximal 40/50 km/h. Doch da, ein weißer kleiner Popeljeep, Marke Suzuki, der aussieht wie ein Arschloch. Unsere Vermutung bestätigt sich: Er tuckert öde 30 vor sich hin, blockiert ob seiner mittelbahnigen Fahrweise die gesamte Straße und macht keine Anstalten, sich dem Verkehr anzupassen. Schlitternd überhole ich, wir überschlittern ihn sozusagen. Das bringt uns einige Kilometer Abstand, denn jetzt müssen wir anhalten, in eine Bucht aus Schnee fahren, Fotos machen, glotzen und staunen. Der Popeljeep überholt uns. Scheiße.
Wir fahren weiter, die Straßenverhältnisse werden immer schlechter. Noch andere Menschen sind unterwegs. Die meiste fahren gesittet, zügig, aber vorsichtig, und vor allem: rechts. Es bilden sich kleine Kolonnen. Das ist gut und stärkt den Teamgeist. Und: Wer liegenbleibt, hat sofort Hilfe. Das werden wir später noch erleben, wenn ein Monstertruck (ein typischer selbstumgebauter Weltenbummler-LKW) aus Deutschland mit Waiblinger Kennzeichen einen Jeep aus dem Straßengraben ziehen wird. Ein schönes Gefühl von Solidarität.
Doch da, schon wieder, das ist doch kaum glauben: Schon wieder der Popeljeep. Immer noch langsam und immer noch in der Mitte. Wir beginnen mit der Analyse, öffnen alle Schubladen mit den Vorurteilen drin. Physiognomie? Gestik? Päärchen? Sie Biologin? Pornobrille, Zopf, Pickel. Er Bankangesteller? Seitenscheitel, kurzes braunes Haar. 1,82er Standardgröße. Sie kommunizieren. Eindeutig, es müssen Franzosen sein. Und dann diese Fahrweise. Ja, unbedingt.
Trotz der vom Popeljeep blockierten Fahrbahn setze ich zum Überschlittern vulgo Überholen an. Der Franzose hebt die Hand und will uns damit sicherlich signalisieren, dass es in Frankreich zuwenig Mettwurst-Popettwurst gibt. Denken wir uns zumindest.
Wir schlittern weiter. Und siehe da, vor uns, eine Lichtgestalt. Ein tapferes Mädel steuert sportlich ihren kleinen Mitsubishi durch die Schneewüste, zügig und sicher. Mit ihr wollen wir eine Kolonne bilden. Eigentlich wollen wir uns später noch bei ihr für ihre phänomenale Fahrleistung bedanken, aber dazu wird es nicht kommen. Denn wir werden unterwegs wieder anhalten, zum Glotzen.
Am Ende der Fahrt werden wir aber das Resümee ziehen, dass die Isländer große Meister darin sind, sich ihr Chaos zu organisieren. All das geht mit so leisen, kaum hörbaren Schritten vor sich, dass es schon erstaunt, mit welcher Chuzpe und Gelassenheit, sie sich mit ihrer rauen Umwelt arrangieren. Etwa der kleine Schneepflug, der am letzten Pass vor Akureyri ganz oben die Straße blockiert – um eine Kolonne von Autos zu sammeln, die er dann sicher ins Tal begleitet. Bravo. Diese Völkchen wächst uns langsam ans Herz.